Selma
Selma ist vielleicht einmal geliebt worden -- früher ; als sie noch jung und gesund war. Sie wußte um das Gefühl der Geborgenheit und des Vertrauens. Doch in ihrer schwersten Stunde hat man sie im Stich gelassen....
Kennengelernt habe ich sie an einem Montagmorgen . Abwartend und ein wenig unsicher starrte sie mich durch die Gitterstäbe an. Der kleine Stummelschwanz wedelte zögernd. Langsam kam sie näher und legte mir ihre dicke Tatze auf den Schoß. Dabei ließ sie mich nicht aus den Augen. Sie ahtte schon ein sehr altes Gesicht. Die Lefzen hingen herunter und es tropfte ein wenig Speichel heraus. Die Schnauze war fast weiß und ein bläulicher Schimmer lag auf den Augen. Aber es war ein liebenswertes Gesicht; und so viel Vertrauen lag darin.... Ich lief ins Büro und sah mir die Einlieferungspapiere an . Sie war abgegeben worden. Es war gerade erst 7 Uhr morgends,und so hatte ich noch etwas Zeit. Eigentlich war ich so früh gekommen,um mein Bereitschaftszimmer auf Vordermann zu bringen Aber das lief mir schließlich nicht weg ,und ich war dankbar für jede Ausrede zum Thema Hausarbeit. Also setzte ich meinen neuen Schützling auf den behandlungstisch und begann den Filz von ihren Ohren herunterzuschneiden. Das würde ein ziemliches Stück Arbeit werden. Selma machte nicht die geringsten Anstalten ,sich der Behandlung zu widersetzen. Plötzlich stadn der Tierheimleiter hinter mir. "Das kannst Du Dir sparen . Der Doktor hat ihn sich gestern schon angesehen . Und er meint , es sei nichts mehr zu machen . " natürlich hatte ich auch schon etwas bemerkt. ... Schon als ich die gewichtige Hundedame auf den Tisch hob,fühlte ich einen Knoten. Je mehr Filz ich wegschnitt,umso deutlicher wurde es. Selma war übersät von Geschwüren. Was war los mit diesem Hund =? Wo kam er her ? Ich erfuhr,daß am Abend zuvor eine ältere Dame vor dem Tor gestanden und Sturm geklingelt hatte . In erschreckender Weise überzeugt von ihrer Tierliebe hatte sie erklärt,daß sie die Hündin trotz ihres Krebsbefalls behalten und mit liebevoller Hingabe bis jetzt gepflegt hatte .Aber inzwischen sei das Tier hinfällig und könne kaum noch die Treppen steigen. Außerdem habe sie einen unangenehmen Geruch entwickelt. Für diese "Hundehalterin" war das Tierheim wohl so eine Art Sammelstelle für alles ,was man nicht mehr brauchen konnte. Ohne sich umzusehen und mit reinem Gewissen ließ sie die winselnde Selma zurück,die nicht verstand ,wieso man sie nach 14 gemeinsamen Jahren nun einfach im Stch ließ.
Nun war sie also hier,und der Tierarzt hatte schon das Todesurteil über sie gesprochen. Seiner Meinung nach hätte sie schon früher erlöst werden müssen. Da stand ich und starrte auf den hechelnden alten Hund ,
der von all dem nichts ahnte . Oder doch ? Wir sprachen über Selmas Schicksal,das beschlossen hatte ,sie alleine und in fremder Umgebung auf den nahen Tod warten zu lassen.
Die Arbeit im Tierheim konfrontiert uns mit viel Leid. Das vernünftigste wäre es ,es nicht zu nahe an sich herankommen zu lassen. Ich habe es versucht ... Ich brachte Selma zurück in den Zwinger ,ganz in der Absicht,ihr zwar noch etwas besonders gutes zu fressen zu bringen , sie aber ansonsten aus meinen gedanken zu streichen . Ich würde sie gar nicht erst näher kennenlernen... Nicht einmal beim Einschläfern müßte ich dabei sein . Der Tierarzt kam erst nach 20 Uhr und da hatte ich längst Feierabend . Jemand Anderer würde sich darum kümmern....
Ja ,das wäre bestimmt das vernünftigste ... Aber vernunft alleine reichjt nun mal nicht im Umgang mit Tieren. Ich hat das Unvernünftige und schleppte sie den ganzen Tag mit mir herum . Nicht ein einziges Mal brauchte ich mich umzusehen ,ob sie auch neben mir war. Sie schien fest entschlossen , mich nicht mehr aus den Augen zu verlieren. Aber auch ich hatte sie längst liebgewonnen in den letzten Stunden. Und als ich gegen acht Uhr den Behandlungsraum betrat, hatte ich mich so an meine schlappohrige Begleiterin gewöhnt,daß es ziemlich weh tat. Ich kam mir vor wie ein Verräter. Und als ich ihr , wie ich es immer tue ,wenn ein Hund auf dem Behadlungstisch unruhig wird,zuflüsterte : " Ist doch alles gut ! Es tut Dir doch niemand was!" , hätte ich mir die Zunge abbeißen können für diese Bemerkung !
Es war kein schöner tag gewesen . Und der Kummer ,dem ich doch eigentlich hatte ausweichen wollen , ließ sich nicht vermeiden. Aber ich bin froh darum ! Selma starb nicht ganz alleine . Sie braute ihren letzten Tag nicht in Angst ,Zweifel und Verlassenheit hinter Gitterstäben zu verbringen ! Und ihr letzter Blick war voll Vertrauen.
Kein Tier sollte einsam sterben ! Man darf sich nicht feige aus seinem Leben stehlen ! Wie schwer es auch ist, jemanden sterben zu sehen ; man sollte bis zum letzten Atemzug ausharren ! Das sind wir ihnen schuldig !